Silke und Micha in Chile

Dienstag, 20. März 2007

Chaos im neuen Nahverkehrssystem

Seit gut 5 Wochen ist das neue öffentliche Nahverkehrssystem Transantiago in Santiago jetzt in Betrieb und noch immer läuft die Sache nicht wirklich rund, daher heute ein ausführlicher Bericht zu dem momentanen Medien- und Gesprächsthema schlechthin:

Bis Anfang Februar gab es die für Europäer etwas abenteuerlichen gelben Micro-Busse, die zwar größtenteils recht alt und mit ihren oft schwarzen Abgaswolken nicht sehr umweltfreundlich waren, die aber kreuz und quer durch die Stadt fuhren. Man stellte sich einfach an den Fahrbahnrand und winkte einem vorbeifahrenden Bus, der dann meist anhielt. Man stieg ein, zahlte den Fahrpreis von umgerechnet etwa 50 Cent während der Fahrer schon wieder beschleunigte, mit einer Hand schaltete und mit der anderen das Rückgeld abzählte und hielt sich anschließend krampfhaft an den Griffstangen fest, um trotz der "sportlichen" Fahrweise auf den Beinen zu bleiben. Der Bustakt war durch an den Haupthaltestellen stehende "sapos" (=Petze) recht einheitlich. Diese schrieben die Ankunftszeiten der Busse auf ein Blatt und riefen dem Fahrer zu, wie viele Minuten er dem letzten Bus hinterher war. Da die Fahrer nach Anzahl der beförderten Personen bezahlt wurden, lieferten sich die Busse gegenseitige Wettrennen und konkurrierten um die Fahrgäste. Eine Busfahrt war so immer ein kleines Abenteuer, dafür funktionierte das auf den ersten Blick chaotische System aber ohne größere Wartezeiten und Probleme - selbst wenn ein altersschwacher Bus ab und zu mal ausfiel, kam doch meist sofort der nächste.
Viel ruhiger und europäischer ging es dagegen in den 4 Metro-Linien zu. Man betritt eine U-Bahn-Station über eine (Roll-)Treppe. An Ticketschaltern kann man Einzelfahrscheine kaufen, was die meisten Chilenen auch jedes Mal tun (vielleicht haben sie Angst, dass auf Vorrat gekaufte Fahrscheine irgendwann nicht mehr gültig sind), oder seine elektronische Metrokarte mit einem Betrag aufladen. An einem Drehkreuz muss man dann seinen Fahrschein entwerten, oder einfach seine Chip-Karte vor ein Lesegerät halten, wodurch der Fahrpreis automatisch von der Karte gebucht wird. Eine beliebig lange Fahrt, inklusive eventuellem Umsteigen, kostet umgerechnet 50 Cent. Wochen- oder Monatskarten gibt es nicht, allerdings bekommen Schüler und Studenten ermäßigte Tarife. Die Bahnen kommen fast im Minutentakt und sind genau wie die U-Bahn-Stationen und Bahnsteige sehr sauber - kein Wunder, da ständig Putzfrauen mit Besen und Schaufel bzw. Wischmop unterwegs sind.

Am 10. Februar - zum Glück im klassischen Ferienmonat, in dem sich viele Einwohner Santiagos (genau wie wir auch) im Urlaub befanden und die Verkehrssituation etwas entlastet war - wurde das Nahverkehrssystem komplett umgestellt. Transantiago integriert nun Busse und Metro zu einem Verbundsystem. Darin dienen die Busse, für die ein komplett neues Liniennetz entworfen wurde, hauptsächlich als Zubringer zur U-Bahn, die dadurch verständlicherweise aus allen Nähten platzt.
Bereits an den ersten Tagen gab es ein enormes Chaos, da viele Busse nicht fuhren oder ganze Linien aus Protest von den Fahrern bestreikt wurden. Grund dafür ist die Zusammenlegung der vorher über 1000 Kleinstunternehmen (die oft nur je 2-3 Busse besaßen) zu 10 großen privaten Busgesellschaften und die Umstellung der Löhne der Busfahrer von Provision auf Fixtarif. Lange Schlangen an den Haltestellen und Unmut bei den Passagieren war die Folge. Wäre alles noch kein Problem, zumal Anlaufschwierigkeiten bei einem so gewaltigen Projekt ja zu erwarten sind.
Allerdings scheint das neue System tiefer liegende Defizite aufzuweisen, die sich bisher nicht lösen ließen. Beispielsweise funktioniert das GPS-basierte Kontrollsystem, mit dem die Frequenz der Busse entsprechend der Verkehrslage und des Passagieraufkommens interaktiv geregelt werden sollte, momentan noch nicht. Nach Wegfall der "sapos" ein fundamentaler Pfeiler des neuen Systems, der bisher fehlt und so die Gesamtkonstruktion ins Wanken bringt. Irgendwie erinnert dies stark an die monatelangen Probleme bei der Einführung des automatischen Kontrollsystems der LKW-Maut in Deutschland. Resultat ist hier in Santiago ein stark variierender Bustakt. Manchmal wartet man mehr als eine halbe Stunde, bis endlich ein Bus vorbeikommt, der dann meist auch noch überfüllt ist.
Waren vor der Umstellung fast 10000 Busse in Santiago unterwegs, sind es nach der Umstellung gerade mal 5000, was auch daran liegt, dass manche der 10 Busgesellschaften nicht die versprochene Menge an Bussen auf die Straßen schicken. Trotz teilweise längerer Gelenkbusse hat man so insgesamt weniger Kapazität. Die Regierung hat deshalb inzwischen Gelder für den Kauf weiterer 1500 Busse bereitgestellt, die wohl in den nächsten Wochen in das System integriert werden und so die Situation verbessern.
Ein strukturelles Problem gibt es auch mit dem mathematischen Modell, das dem neuen System zugrunde liegt. Dieses wurde schon vor einigen Jahren von Regierungsmitarbeitern ohne wirklich fundierte Daten und mit unzureichenden mathematischen Grundlagen erstellt. Natürlich hat sich der Bedarf an den meisten Linien über die Jahre stark geändert und die Stadt ist weiter gewachsen, während die Gesamtzahl der als nötig veranschlagten Busse im Modell konstant blieb. Bewohner der Außenbezirke Santiagos beklagen die schlechtere Anbindung durch das neue System. Waren ihre Vororte im alten System gut integriert, so ist der Bustakt jetzt sehr unregelmäßig und einzelne Regionen werden von dem neuen Liniennetz überhaupt nicht mehr bedient, was wahrscheinlich an dem überalterten Modell liegt; lag das Passagieraufkommen in diesen Randgebieten der Stadt vor einigen Jahren doch deutlich niedriger. Warnungen verschiedener Mathematiker aus Michas Institut, das Modell sei zu korrigieren, verhallten ungehört und erst jetzt nach der missglückten Einführung wendet sich die Regierung hilfesuchend an Experten. Die langen Schlangen an den Haltestellen bekommt man ohne gravierende Änderungen bei den bedienten Linien und beim Takt der Busse wohl nicht in den Griff.
Viele Passagiere beschweren sich über deutlich längere Fahrzeiten. Aussagen die durch eine Erhebung der Tageszeitung El Mercurio über die tatsächlichen Fahrzeiten im alten und neuen System auch objektiv belegt werden können. Ursache hierfür ist zum einen der unregelmäßige Takt und die damit verbundenen langen Wartezeiten an den Haltestellen und zum anderen das im neuen System viel häufiger notwendige Umsteigen. Die alten Busrouten waren anscheinend über die Jahre "automatisch" sowohl hinsichtlich der Kriterien Gesamtfahrzeit, reales Passagieraufkommen und Bedienung der Hauptrouten ohne Umsteigen optimiert worden. Das neu entworfene Liniennetz hat da vergleichsweise schlechte Zielfunktionswerte.
Aufgrund des völlig neuen Busliniennetzes, weis momentan auch niemand von wo welcher Bus genau losfährt und wohin er unterwegs ist. Im alten System konnte man auf den großen Straßen eigentlich immer einen vorbeifahrenden Bus durch Winken anhalten. Im neuen System halten die Busse nur noch an den entsprechenden Haltestellen, die manchmal auch etwas versteckt liegen. Da die neuen Linien oft auch ganz anders als die gewohnten verlaufen, sucht man so schon mal in der falschen Straße nach einer Haltestelle, die dann dort nicht existiert. Immerhin gibt es einen offiziellen Linienplan, ein zugegebenermaßen unhandliches, weil quadratmetergroßes zusammenfaltbares Poster mit einem Stadtplan und allen Buslinien, von dem auch schon zwei Tage vor der Umstellung, also am 8. Februar, je ein Exemplar per Post in alle Haushalte gebrachte wurde. Hat man den gerade nicht zur Hand, kann man immer noch die Route im Internet heraussuchen oder wenn man bereits unterwegs ist, eine der Transantiago-Informationsstellen aufsuchen, falls man eine solche findet. Diese Probleme werden im Laufe der Zeit aber sicherlich verschwinden, denn nach einer Anlaufzeit kennt man ja seine Standardrouten.
Ein positiver Aspekt des neuen Systems ist die integrierte Fahrpreisstruktur, so bezahlt man jetzt sowohl im Bus als auch in der Metro mit der gleichen Bip-Karte, wodurch man kein Kleingeld mehr braucht. Musste man früher den Bus und die Metro je einzeln bezahlen, merkt sich die Karte nun, dass man zuvor bereits ein anderes Verkehrsmittel benutzt hat. Das Umsteigen von Bus zu Bus oder Bus zu Metro kostet daher innerhalb einer Stunde keinen Aufpreis. Allerdings sollte man daran denken, seine Chip-Karte regelmäßig in den Metrostationen aufzuladen, da es im Bus und an den Haltestellen keine Möglichkeit gibt die Karten aufzuwerten und der Busfahrer auch keine Barzahlung akzeptiert. Sollte die Karte doch mal leer sein, einfach den Busfahrer nett bitten; manchmal nimmt er Passagiere unentgeltlich mit.
Wie schon erwähnt fungieren die Busse hauptsächlich als Zubringer zur Metro. Dadurch stiegen die Passagierzahlen der U-Bahn von täglich 1,3 Millionen auf über 2 Millionen. Der vollmundig verkündete Werbeslogan Transantiago würde die doppelte Anzahl Menschen per Metro befördern wurde demnach fast erreicht. Aber leider hat auch die U-Bahn eine Kapazitätsgrenze - worüber scheinbar niemand nachdachte - und die ist inzwischen mit bis zu 6 Passagieren pro Quadratmeter mehr als erreicht. Besonders in den Hauptverkehrszeiten stehen Passagiere oft in mehreren Reihen an den U-Bahnsteigen und wenn man es dann (nach mehreren Anläufen) in einen der Züge schafft, kommt man sich vor wie in der Sardinenbüchse. Beschwerlich ist die Fahrt in den überfüllten Zügen besonders für ältere und nicht mehr so bewegliche Personen.
Leider lässt sich die Taktrate der Metro nicht beliebig steigern und die Länge der Züge ist klarerweise durch die Bahnsteiglänge beschränkt. Um die Belastung in den Stoßzeiten abzumildern setzt Transantiago inzwischen sogenannte Clon-Metro-Busse ein, die die gleiche Route wie die Metro abfahren und so eine Alternative bilden. Nur leider kommen diese im dichten Verkehr nicht so schnell vorwärts.
Zudem benutzen viele Bewohner Santiagos die Metro erst seit der Umstellung und sind noch nicht damit vertraut, dass man für aussteigende Passagiere eine Gasse lassen und selbst erst einsteigen sollte, wenn niemand mehr aussteigen will und vielleicht schon nach der vorletzten Haltestelle versuchen sollte im Gedränge näher an die Tür heranzukommen. Momentan bemüht sich Transantiago dies mit Plakaten an den Wänden, Aufklebern auf dem Boden und vielen gelb-uniformierten Ordnern in den U-Bahnstationen in den Griff zu bekommen. Mal sehen wie lange es dauert, bis die meisten Leute das gelernt haben.
Von verbesserter Qualität und kürzeren Transportzeiten - den erklärten Zielen Transantiagos - sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Als Resultat sind viele gefrustet auf das Auto umgestiegen. Statt also mehr Personen in den öffentlichen Nahverkehr zu integrieren und so die Abgase in der Innenstadt zu vermindern, passiert das Gegenteil. Tatsächlich braucht man mit dem Auto in den verstopften Straßen - inklusive Hupkonzert - aber oft noch länger und entspannender ist das Selbstfahren auch nicht.
In den Meinungsumfragen spiegelt sich der Frust der Menschen dramatisch wieder. War die Bevölkerung dem neuen System anfangs mit großer Mehrheit positiv gegenübergestanden, so gibt es für dessen mangelhafte Umsetzung und die bei Weitem nicht erfüllten Erwartungen allerorts heftige Kritik. Regierungsgegner bezeichneten die Umstellung als "unprofessionell und improvisiert", ein Vorwurf, der nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein scheint. Allerdings ist fraglich, ob die Kritiker es besser gekonnt hätten. Die Sympathie-Quote für Michelle Bachelet, die chilenische Präsidentin, fiel von 55 Prozent Anfang Februar auf nur noch 42 Prozent im März. Da kann man nur hoffen, dass die Bemühungen der Regierung die Situation zu verbessern in nächster Zeit fruchten. "Transantiago" ist jedenfalls in den letzten Wochen zum Synonym für lange Wartezeiten, Schlangestehen und Gedränge geworden.
Fazit: Never change a running system.