Silke und Micha in Chile

Sonntag, 28. Oktober 2007

Wissenschaftler protestieren

Schon seit im September von der Regierung bekannt gegeben wurde, dass das Budget der chilenischen Forschungsgesellschaft CONICYT (Comisión Nacional de Investigación Científica y Tecnológica, dem Äquivalent der Deutschen Forschungsgesellschaft DFG) für das Jahr 2008 um 11 Prozent geringer als für das Jahr 2007 ausfallen würde, versuchten die Wissenschaftler im ganzen Land diese Situation abzuwenden. Heiß wurde diskutiert, fleißig wurden offene Briefe an die Regierung und an verschiedene Tageszeitungen geschrieben und Interviews gegeben. Leider kam von den verantwortlichen Regierungsstellen keine Reaktion, nicht einmal eine ausreichende Stellungnahme, warum die Gelder gekürzt werden sollten.
Am letzten Freitag (26.10.) waren dann alle aktiv an der Forschung Beteiligen aufgerufen an einer öffentlichen Demonstration, der ersten derartigen Kundgebung von Wissenschaftlern seit Jahrzehnten, teilzunehmen.

Der Aufruf "Töten Sie die Wissenschaften nicht!" - direkt vor dem CONICYT Gebäude angebracht - hatte noch wenig Wirkung.

Micha hatte zwar schon ein paar Tage vorher die Zusage für sein von FONDECYT finanziertes neues Forschungsprojekt erhalten, welches maximal über 2 Jahre läuft und neben monatlichen Bezügen ein jährliches Budget für Forschungsaufenthalte außerhalb von Santiago, Reisemittel zu Kongressen sowie Mittel zum Kauf von Fachbüchern und Arbeitsmaterialien umfasst, trotzdem wollte er an der Kundgebung teilnehmen, zum einen aus Solidarität für seine Kollegen und zum anderen, da man ja nie weis, ob man nicht selbst noch einmal Gelder von CONICYT-FONDECYT beantragen muss.
Gegen 11:00 Uhr am Morgen strömten immer mehr Personen auf den baumbestandenen Platz direkt vor dem Hauptsitz von CONICYT. Einen signifikanten Anteil stellte die Universidad de Chile; aus Michas Institut allein nahmen ein gutes Dutzend Personen teil, dazu Dekane der verschiedenen Fakultäten, etliche Preisträger des Premio Nacional de Ciencias Naturales sowie viele Chemiker und Mediziner in weißen Laborkitteln und schwarzen Armbändchen, um ihre Trauer über die "sterbende" Wissenschaft auszudrücken. Etliche trugen Schilder mit Karikaturen oder Wortspielen und unter den Augen mehrerer Polizisten wurden Transparente und Spruchbänder an den Bäumen befestigt. Die massive Versammlung von Wissenschaftlern aller Fachrichtungen füllte schließlich den gesamten Platz und kurz nach 11:00 Uhr betrat Dr. Jorge Babul, Präsident des Consejo de Sociedades Científicas (Wissenschaftsrats) die Bühne um eine längere Ansprache gegen die Kürzungen im Etat von CONICYT zu halten.


Er wies darauf hin, dass dies besonders die Programme von FONDECYT (Stipendien für Doktoranden, Finanzierung mehrjähriger Forschungsvorhaben etc.) betreffen würde. Der von der Regierung zugeteilte FONDECYT Etat für 2008 beträgt $31.369 Millionen Pesos (ca. 45 Millionen Euro), von denen $23.600 Millionen Pesos für bereits laufende Projekte aus den letzten Jahren und $5.500 Millionen Pesos für die in diesem Jahr schon bewilligten Projectos de Postdoctorado y Iniciación aufgebracht werden müssen. Der Rest reicht nur für 250 reguläre Projekte, im Vergleich zu 393 im letzten Jahr bewilligten Projekten und den 450 eigentlich für 2008 geplanten, wodurch das wichtigste Instrument der Forschungsförderung in Chile stark eingeschränkt sei. Die am Tag vor der Demonstration von der Regierung eilig zugesagten zusätzlichen $5.700 Millionen Pesos seien nicht einmal ausreichend, um die gleiche Zahl an Projekten wie im laufenden Jahr zu fördern.
Eigentlich sollte der FONDECYT Etat in den nächsten Jahren bis 2010 verdoppelt werden, der finanzielle Umfang und die Gesamtzahl der Projekte sollte vergrößert und die Infrastruktur (z.B. Laborausstattung, Hilfe bei der Anmeldung von Patenten etc.) verbessert werden.


Auch kritisierte Dr. Jorge Babul die fehlende Konsistenz zwischen der öffentlichen Diskussion und den realen Fakten. Aussagen der Regierung die Ausgaben für Wissenschaft und Technologie auf bis zu 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erhöhen, um Chile bis zum Jahr 2020 auf den Stand der voll entwickelten Staaten (USA, Kanada und Europäische Staaten) zu bringen stünden im Widerspruch zur gleichzeitigen Kürzung des CONICYT Budgets für 2008.

Hintergrundinformation: Chile gehört zu den führenden Wirtschaftsnationen Lateinamerikas sowie zu den größten Rohstoffproduzenten. Hohe Staatseinnahmen entstehen vor allem durch den Kupferabbau - Chile verfügt über die größten bekannten Kupfervorkommen der Welt - durch den staatlichen CODELCO Konzern, die Land-, Forst- und Fischwirtschaft. Chiles Wirtschaft hängt stark vom Export von Mineralien, Holzprodukten, Fisch (seit 2005 größter Lachsproduzent der Welt), Obst und Gemüse ab. Mit dem starken Anstieg der Rohstoffpreise explodierten die Exporte zudem in den letzten Jahren geradezu. Der Wirtschaft geht es also sehr gut und es besteht kein Grund die Gewinne nicht in Forschung zu investieren, um einen technologischen Vorsprung vor den aufstrebenden Wirtschaftsnationen Asiens und Südamerikas zu behalten oder auszubauen.

Karikaturen der Verantwortlichen in Regierung und CONICYT.

Seit 20 Jahren sei Chile bestrebt ein modernes und effizientes nationales System im Bereich Forschung, Wissenschaft und Technologie zu schaffen, trotzdem wäre über Jahre ein Beinahe-Stillstand in den Wissenschaftsetats und jetzt sogar ein deutlicher Rückschritt zu verzeichnen. "Ciencia es desarrollo" (Wissenschaft ist Entwicklung) und dieser Fortschritt käme nur zustande, wenn zumindest eine kritische Masse an Projekten finanziert würde.


Forschung und Technologie sei, so der Konsens aller, wichtig für die Zukunft Chiles, daher würde sich der Protest auch nicht gegen CONICYT, sondern nur gegen die Budgetkürzungen richten. Er zeige das Interesse der Wissenschaftler selbst aktiv an den Diskussionen und Entscheidungsfindungen der Regierung teilzunehmen. Die Wissenschaftsgemeinde bitte die Regierung gerade die Basiswissenschaften, die erst zu Innovationen und Anwendungen führen würden nicht zu opfern. Ohne gute Grundlagenwissenschaft auch keine für die Wirtschaft so wichtigen Anwendungen.


Während der Ansprache kam es immer wieder zu heftigem Applaus, der den anwesenden Vertretern der Presse und des Fernsehens den Rückhalt und die Zustimmung der nahezu 1000 Akademiker, Professoren, Postdoktoranden und Forscher zu den gemachten Aussagen verdeutlichte. Insgesamt verlief die Kundgebung aber sehr gesittet und die anwesenden Polizisten hatten außer den mäßigen Verkehr in der angrenzenden Seitenstraße zu regeln nichts zu tun.
Nach einer guten Stunde, nachdem noch einige nationale Preisträger Presseinterviews gegeben und sich die Anwesenden unter Trommeln und Pfeifkonzerten ihre Plakate schwingend ausgiebig den Kameras präsentiert hatten endete die Demonstration, die in kleinerem Umfang zeitgleich auch in Valparaiso und Concepción stattfand.

Nachtrag vom 29.10.: Heute hat die Regierung den Etat von CONICYT für das kommende Jahr um $19.000 Millionen Pesos aufgestockt, eine Summe die es ermöglicht die geplanten Projekte zu finanzieren. Der Protest scheint also zumindest teilweise erfolgreich gewesen zu sein, auch wenn die geforderten zusätzlichen $29.400 Millionen Pesos nicht ganz erreicht wurden. Bleibt abzuwarten, wie sich die Finanzlage in den nächsten Jahren entwickelt.
Irgendwie wunderte sich Micha, dass eine einzige Demonstration hier in Chile so viel ausrichten kann. Nachdem auch in Deutschland in den letzten Jahren immer stärkere Bestrebungen zu Tage treten die Grundlagenforschung auf Kosten der Drittmittel einbringenden, angewandten Industrieprojekte zu vernachlässigen, sollten vielleicht auch hier einmal die Akademiker der reinen, nicht auf unmittelbaren Profit ausgerichteten Wissenschaften auf die Straße gehen um ihrem Anliegen nach mehr Förderung Gehör zu verschaffen.