Silke und Micha in Chile

Mittwoch, 14. November 2007

Terremoto im Norden (Bericht 26)

Heute um die Mittagszeit saß Micha gerade im seinem Büro am Schreibtisch, als er ein leichtes Schwanken der Tischplatte bemerkte. Naja, wieder mal ein Mini-Erdbeben dachte er sich. Das Schwanken flaute leicht ab, kehrte dann aber in drei bis vier Wellen wieder zurück. Seltsam, da bei Erdbeben bisher eigentlich immer ein längeres, einheitliches Zittern des Gebäudes zu spüren war. Nach etwa einer Minute verebbte die Bewegung dann endgültig und Micha arbeitete noch ein wenig, um kurz darauf gegen 13:15 Uhr mit zwei Kollegen essen zu gehen. Auf Nachfrage meinten beide, dass sie nichts von einem Erdbeben gespürt hätten.

Das Epizentrum, weit im Norden Chiles (Karte des Servicio Sismologico).

Nach dem Mittagessen erwartete Micha aber schon eine eilige e-Mail aus Deutschland. Silkes Bruder hatte in den deutschen Nachrichten von einem schweren Erdbeben in Chile gehört und sich sorgend sofort eine e-Mail geschickt, um zu hören, ob es uns auch gut ginge (Ja, tut es!). Micha schaute erstmal auf der Homepage des geophysikalischen Instituts der Universidad de Chile und tatsächlich gab es einen neuen Eintrag in der Liste der zuletzt in Chile registrierten Beben, allerdings konnte er seinen Augen kaum trauen: Stand da doch eine Stärke von 7.7 auf der Richterskala - ein richtig großes Terremoto also.

Beobachtete Intensitäten und Schäden gemäß der Mercalli Skala (Karte des World-wide Earthquake Locators).

Allerdings lag das Epizentrum weit im Norden Chiles, zwischen den Küstenstädten Antofagasta und Iquique, gut 1500 Kilometer von Santiago entfernt. Kein Wunder also, dass man in der Hauptstadt nur ein leichtes Zittern spürte und vielleicht erklärt die große Entfernung auch den langen zeitlichen Abstand zwischen den einzeln spürbaren Wellen. Zum Glück sind in Chile alle größeren Gebäude sehr stabil und erdbebenfest gebaut - was wie das heutige Beben zeigt ja auch nötig und sehr hilfreich ist - und so berichtete die erste Erdbebenmeldung von nur vereinzelten Schäden und bisher keinen Todesopfern.
Michas Heidelberger THW-Kameraden können sich also beruhigt entspannen, da es diesmal sicher keinen Auslandseinsatz im Erdbebengebiet geben wird. (Die Bilder sind ja vielleicht trotzdem interessant und falls Euch im deutschen Winter langweilig wird könnt Ihr ja schon mal ein Planspiel entwerfen).

Natürlich waren die chilenischen Nachrichten am Abend voll mit Meldungen über das Ereignis und auch im Onlineportal der Tageszeitung El Mercurio gab es etliche Bilder (siehe unten) und Berichte.
In typisch chilenischer Manier wurden ausführlichste Interviews mit weinenden und teils völlig hysterischen Passanten gezeigt, die dem Kamerateam und damit dem ganzen Land ihre privaten Erlebnisse während des Erdbebens schilderten.

Fassungslosigkeit während der Evakuierung.

Erstmal schnell auf die Straße und sich in Sicherheit bringen und dann mit dem Handy (linke Bildhälfte) im hoffnungslos überlasteten Netz versuchen Verwandte und Bekannte zu erreichen und mit der Handy-Cam ein paar Aufnahmen vom Geschehen machen.

Klarerweise versuchten die Menschen während des Bebens schreiend und rennend möglichst schnell ins Freie zu kommen, allerdings blieb eine Massenpanik selbst in Antofagasta (300.000 Einwohner) größtenteils aus. Die Chilenen scheinen durch die häufigen kleineren Erdbeben fast auf eine solche Situation vorbereitet, auch wenn viele im Fernsehen aufgelöst und unter Schock über die Wucht und die außerordentliche Stärke der Erschütterungen berichteten.


Tatsächlich griffen die Notfallpläne, wie ein Sprecher der Katastrophenbehörde es ausdrückte und die Evakuierung aller größeren Gebäude verlief zügig und ohne Zwischenfälle. Kurz nach dem Beben erging durch die Regierung ein Aufruf zur Ruhe. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass keine Tsunami-Gefahr bestünde, da das Epizentrum ja 40 Kilometer im Landesinneren lag. Obwohl es sich um ein "sismo de intensidad mayor" (Schweres Beben) gehandelt hätte, wäre die Lage unter Kontrolle.

Die Schäden in Antofagasta hielten sich in Grenzen. Alles erdbebenfest gebaut, ...

... wenn man mal vom Vordach absieht. Dumm wenn man gerade da parkt, aber zum Glück saß ja niemand im Auto.

Wie üblich wurde sofort nach dem Erdbeben die Stromversorgung in der gesamten Region abgestellt, um aufgetretene Kurzschlüsse zu unterbrechen. Auch das Telefonnetz war von dieser Abschaltung betroffen. Die verursachten Straßenschäden und vielfachen Blockaden schnitten daher im dünn besiedelten Norden Chiles kurzfristig einige Ortschaften von der Außenwelt ab.
Die am stärksten betroffene Stadt, weniger als 50 Kilometer vom Epizentrum entfernt, war Tocapilla, eine kleinere Küstenstadt mit vielen älteren und einfacheren Häusern, die der Naturkatastrophe nicht immer standhielten.

Irgendwie scheint hier das Erdgeschoss verschwunden zu sein.

Hier und in der direkten Umgebung wurden Schadenwirkungen der Stufe 8 auf der Mercalli Skala verzeichnet und bis zu 40 Prozent aller Häuser in dieser ländlichen Gegend sind stark beschädigt.

Die einfachen Häuser auf dem Land, oft nur aus Holz, Wellblech und Rigips-Wänden zusammengebaut, hielten dem Beben selten stand.

Neueste Meldungen sprechen inzwischen von 500 teilzusammengebrochenen Häusern und etwa 5000 Gebäuden mit strukturellen Schäden, so dass durch das chilenische Militär, das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen momentan 15.000 Obdachlose versorgt werden müssen.

Die Begutachtung aller baulichen Schäden wird wohl einige Tage in Anspruch nehmen.

Darüber hinaus ist die Wasserversorgung in der Gegend um Tocapilla und Maria Elena durch das Erdbeben zusammengebrochen, was am Rande der Atacama Wüste und bei den momentan sommerlichen Temperaturen sicher nicht lustig ist. Die umgehend begonnenen Reparaturen werden einige Tage dauern und so müssen die Bewohner notversorgt werden.


An menschlichen Opfern sind in Tocapilla zwei Tode zu beklagen; eine Frau wurde von einem herabfallenden Ziegel am Kopf getroffen und verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus, während eine weitere unter einer einstürzenden Mauer begraben wurde. Daneben gab es in der gesamten Region 11 schwerer Verletzte und 150 Leichtverletzte - im Vergleich zu ähnlichen Katastrophen in anderen Ländern sehr niedrige Zahlen.


Seltsamerweise wurde in den Nachrichten auf Deutsche Welle TV neben einem kurzen Bericht über die Situation der Bevölkerung besonders die Lage der großen chilenischen Kupferminen hervorgehoben.

Hoch aufgewirbelte Staubwolken ...

Nach Erdrutschen an einigen Hügeln und Berghängen, sowie in den weltgrößten Tagebauminen Chuquicamata und Radomiro Tomic stand dort die Arbeit still, was aber zum Großteil auch an der erzwungenen Stromabschaltung lag.

... die lange nach den Erdrutschen noch in der Luft hingen.

Codelco, der chilenische Kupfermonopol-Konzern, bestätigte unterdessen zwar, dass es keine nennenswerten Schäden gegeben habe und der Betrieb der Minen nach dem Wiedereinschalten der Energieversorgung noch am gleichen Abend wieder aufgenommen würde, trotzdem reagierte der Aktienmarkt sofort mit gestiegenen Kupferpreisen, was zumindest den ausländischen Medien eine ausführliche Nachricht wert war.

Nachtrag vom 15.11.: Während der Nacht gab es mehrere schwache "Replicas" (=Nachbeben) mit Stärken von 4.5 bis 5.5 auf der Richterskala (solche hatten wir ja auch schon einige Male erlebt).
Die chilenische Präsidentin ist heute Morgen zu einem Kurzbesuch in das Katastrophengebiet aufgebrochen und hat sogleich finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau der zerstörten Häuser versprochen.


Um die Mittagszeit folgten zwei starke Nachbeben (6.2 und 6.8 auf der Richterskala). Es wurden keine neuen Verletzten, aber natürlich weitere Schäden an den Gebäuden gemeldet.


Experten sprechen davon, dass dies aufgrund seiner geringen Tiefe (etwa 40km unter der Erdoberfläche) noch nicht das für den Norden Chiles erwartete seismische Großereignis der Stärke 8 oder höher gewesen wäre. Das letzte Großbeben ereignete sich in dieser Region im Jahre 1877 und erzeugte einen 20 Meter hohen Tsunami. Da der für Nordchile prognostizierte 100 Jahre Zyklus solcher Naturkatastrophen schon überschritten ist, wird man angespannt weiter warten müssen.
Bildnachweis: Die in diesem Bericht gezeigten Photos stammen aus dem Online-Archiv der Tageszeitung El Mercurio. Teilweise handelt es sich um Bilder von offizielle Photografen dieser Zeitung, teilweise auch um Aufnahmen die - typisch chilenisch - von Lesern eingeschickt wurden. Die beiden Erdbeben-Karten stammen von den Web-Pages des Servicio Sismologico bzw. des World-wide Earthquake Locators.