Nachdem nun doch so langsam der Herbst in Chile Einzug hält - wir hatten immerhin schon einen Tag mit kräftigem Regen, die Temperaturen liegen nachts bei nur noch 5-8 Grad und das Smog-Niveau (vgl. unseren Bericht aus dem letzten Jahr) steigt - wird es Zeit die warme Winterkleidung herauszusuchen und sich eventuell noch einen neuen Pullover zu kaufen. Aus diesem Grund fuhren wir am letzten Samstag mit dem Auto in das Woll-Zentrum Mittelchiles.
Herbst in Chile, in den Anden liegt bereits Schnee.Dieses liegt in der Gemeinde La Ligua (Región de Valparaíso), etwa 150km nord-westlich von Santiago und so machten wir uns bei sonnigem Wetter über die Ruta 5 nach Norden auf den Weg. An zwei Mautstellen bezahlten wir die üblichen Autobahngebühren, die dritte umfuhren wir dann aber, zumal die Durchfahrt durch den Tunnel El Melon am Wochenende mit horrenden 3200 Pesos (fast 5 Euro) zu Buche schlägt und die alte Serpentinenstraße über die gleichnamige Cuesta (Anhöhe) der Küstenkordillere nicht viel weiter und landschaftlich sowieso schöner als ein Tunnel ist.
Schließlich bogen wir von der Ruta 5 nach Osten ab und erreichten kurz darauf den 1754 von Spaniern gegründeten Ort La Ligua, der heute etwa 15.000 Einwohner hat. Tatsächlich war das Gebiet bereits viel früher von den Ureinwohnern (der Molle-Kultur, den Aymara aus dem Norden sowie den Mapuche aus dem Süden) besiedelt und daher stammt der Name des Ortes wohl entweder vom Mapuche Wort "Lihuen" (der Morgen/der Sonnenaufgang) oder - viel passender - aus der Quechua-Sprache, wo er "Ort an dem Wolle für den Haushalt gewebt wird" bedeutet.
Büsche und felsige Landschaft auf dem Weg; hier wurde in früheren Zeiten Gold gewaschen.Während der spanischen Kolonialzeit beruhte die Wirtschaft der Region hauptsächlich auf dem Abbau von (Wasch-)Gold sowie der Landwirtschaft und auch heute noch werden in den fruchtbaren Tälern mit ihrem warmen Klima vor allem Palta (Avocados), Quitten, Orangen, Walnüsse, Lucumas und Chirimoyas geerntet. Die in der Gegend alte und lange gepflegte Tradition der Wollverarbeitung und Textilherstellung gewann erst am Beginn des 20. Jahrhunderts vollständig die Oberhand. Ein Grund hierfür waren sicher die aus Europa eingeführten und seit dieser Zeit größtenteils benutzten Maschinen, die eine enorme Produktionssteigerung erlaubten, auch wenn selbst heute noch einige Betriebe nach den althergebrachten handwerklichen Methoden ihrer Vorfahren kunstvoll Kleidung herstellen. Ab den 1970er Jahren wurden die ursprünglichen Waren (Ponchos, Chamantos, Bett- und Wolldecken) mehr und mehr durch halbindustrielle Produkte (Kleider, Pullover, Jacken, Umhänge, Schals, Socken, Handschuhe) ersetzt.
Obwohl es auch in La Ligua etliche Läden mit Woll- und Stoffprodukten gibt, liegt das eigentliche Verkaufszentrum wenige Kilometer nördlich, in dem kleinen Dorf Valle Hermoso (schönes Tal), wo laut chilenischem Reiseführer die "Wiege der Textilien" steht und so fuhren wir zunächst dorthin.
Regelmäßige Leser unseres Blogs werden sich eventuell an den
Bericht aus Pomaire erinnern und genau wie dort besteht das gesamte Dorf eigentlich nur aus einer langen Straße, die sich an dem fast ausgetrockneten Bachbett des Río Ligua entlangzieht, an der sich aber wie in Pomaire ein Laden an den anderen reiht - natürlich hier eben mit Strickereien, anstelle der Töpferwaren.
Aufgrund der Menschmassen, die an diesem Tag in Valle Hermoso unterwegs waren, hatten wir zunächst Mühe einen Parkplatz zu finden und so stellten wir El Rojo fast am gegenüberliegenden Ortsausgang ab und liefen die Straße sozusagen rückwärts von Nord-nach-Süd entlang. Die meisten Geschäfte hatten ihre Waren zur Ansicht im Freien hängen, so dass man sich bereits vom Gehweg aus ein grobes Bild machen konnte. Das Angebot ist sehr vielfältig und beinhaltet jetzt im Herbst vor allem Strickpullis, lange Jacken, Mützen, Schals, Handschuhe in allen möglichen Farben, Designs und Wollarten (Lama, Alpaka, Baumwolle und Synthetikfasern).
Silke beim kritischen Sichten der Produktpalette.Hat man etwas Passendes gefunden, will sich ein Stück näher anschauen oder etwas anprobieren, so ist sofort eine hilfsbereite, aber nie aufdringliche Chilenin zur Stelle. Auch wenn man ein Modell in einer anderen Farbe sucht, sollte man immer fragen, denn wie so oft in Chile, liegen im hinteren Bereich des Laden "versteckt" meist weitere Stücke und ein kleines, manchmal auch längeres Schwätzchen gehört hier wie überall einfach dazu.
Auch in den seitlichen Abzweigen und Innenhöfen herrscht dichtes Gedränge.Neben den üblichen Geschäften gibt es auch spezielle Läden mit Kleidung der Huasos (chilenische Viehhirten), die für die Rodeos unerlässlich ist, aber auch an Sonn- und Feiertagen auf dem Land getragen wird. Für die Mädchen gibt es in einigen Läden zudem etwas ganz besonderes: gestrickte Barbie-Kleidung. In Deutschland waren diese laut Silke Anfang der 80er zwar auch zu haben (wohl eher von der Oma selbstgemacht und nicht gekauft) und es bleibt fraglich, ob die heute besser ankommen. Natürlich sind sie viel billiger als die original Barbie-Accessoirs und sicher ist eine ausreichend (!) große Auswahl an Kleidungsstücken auch für jede chilenische Puppe wichtig.
Barbie-Klamotten zum Sonderpreis, 2 "modisch hippe Outfits" für fast geschenkte 1500 Pesos.Der gesamte Ort scheint traditionell stark in diesem Handwerk verhaftet und kaum jemand der 1000 Einwohner arbeitet nicht in der Herstellung oder dem Verkauf der Textilwaren. Aufgrund des unmittelbaren Konkurrenzkampfes sind die Waren vergleichsweise billig - das meiste liegt im Preis deutlich unter 10000 Pesos (14 Euro). So pilgern die Käufer, teils in Bustouren organisiert, in Scharen nach Valle Hermoso und shoppen dort schon fast "bis der Arzt kommt". Manche von ihnen tragen oder ziehen riesige Reisetaschen, die am Ende des Tages sicher mit allerlei Kleidung, wahrscheinlich für die ganze (Groß-)Familie, angefüllt sein werden.
Kein Einzelfall: Chilenen mit Koffern und Reisetaschen auf Shoppingtour.Ökonomisch gesehen wäre es sicher sinnvoller die Läden besser über das Land zu verteilen, was in Chile aber sehr selten der Fall ist (auch in Santiago gibt es ganze Straßenzüge mit Läden ein und derselben Sparte) und natürlich ist die lokal fokussierte Textilindustrie die Haupteinnahmequelle und hat wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Wachstum der Gemeinde.
Wie schon erwähnt befindet sich eigentlich in fast jedem Haus des Dorfes ein Verkaufsraum, manchmal kaum mehr als ein aus Brettern zusammengezimmerter Kiosk, der im Winter sicher nur notdürftig beheizt wird, manchmal ein schlichter, recht großer Raum mit Wandregalen und langer Theke, der entfernt an Fabrikverkauf in Deutschland erinnert, manchmal aber auch ein nett und modern eingerichteter kleiner Laden, der schon fast Boutique-Charakter hat und so wundert es nicht, dass Silke gleich mehrfach fündig wurde. Neben einer braunen Strickjacke, die mit einer Holzfibel geschlossen wird und einem leinenartigen Kurzkleid/Langbluse, das man hier über einer Hose trägt, kaufte sie noch zwei "normale" Pullis und ist so für den kommenden Winter gut gerüstet.
Micha ließ sich auf die Frage einer Verkäuferin, ob er denn nichts gefunden hätte, und obwohl er es eigentlich vorher schon besser wusste, von dieser überreden eine als extragroß angepriesene Strickjacke zu probieren. Wie erwartet war diese aber trotzdem zu klein und die Ärmel viel zu kurz, was die Verkäuferin dann auch einsah. Kein Wunder bei einer Körpergröße von 1.93m, die sicher gut 15cm über dem Schnitt der chilenischen Männer liegt. So muss Micha eben im Juli wieder in Deutschland einkaufen.
Zumindest für Silke hat sich der Ausflug aber gelohnt und die Gemeinde La Ligua wurde ihrem Ruf als Textilhauptstadt Chiles mehr als gerecht. Da im Januar/Februar in La Ligua zudem die Feria de Tejidos (Textilmesse), inklusive Modenschauen, Workshops und verschiedener weiterer Events stattfindet, an der jährlich über 100 Hersteller aus der Region teilnehmen und ihre Produkte ausstellen, werden wir sicher noch einmal wiederkommen, um uns auch die Sommerkollektion anzuschauen.
Am frühen Nachmittag ging es dann zurück nach La Ligua, wo wir zunächst bei warmem Sonnenschein auf der Terrasse eines kleinen Lokals zu Mittag aßen und anschließend noch einen kleinen Rundgang durch den Ort machten, auf dem wir uns noch ein leckeres Eis kauften. Selbst am Samstagnachmittag war recht viel auf den Straßen und in den noch geöffneten Geschäften los. Insgesamt ist La Ligua aber eine chilenische Kleinstadt, wie so viele andere auch. Neben einer hübschen baumbestandenen Plaza, einer Kirche und einem kleinen Museum, das Stücke zur Archäologie der Gegend, zur Entwicklung der Stadt und dem Textilboom der Region ausstellt gibt es nicht viel Interessantes.
Einzig erwähnenswert sind vielleicht noch die Dulces de La Ligua, manjar (=Karamell) gefüllte Teilchen, die man an jeder Straßenecke kaufen kann, die gewissermaßen zur Identität des Ortes gehören und die weit über die Region hinaus bekannt sind. Nach traditionellen Rezepten stellen mehr als 20 Betriebe dieses Gebäck her und wetteifern miteinander um Qualität und besten Geschmack. Diesen Konkurrenzkampf kann man am besten auf dem nahe gelegenen Abschnitt der Ruta 5 beobachten, wo am Fahrbahnrand jeden Tag dutzende Frauen mit weißen Schürzen stehen und hektisch mit Tüchern winken um auf sich aufmerksam zu machen und aus abgedeckten Körben diese Süßigkeiten verkaufen. Für 1000 Pesos gibt es meist eine Tüte mit 6-8 Teilen: Alfajores, Meringe, Empolvados (im Puderzucker gewendete), Schillerlocken und Blätterteigstängchen, alles mit Manjar gefüllt, zuckersüß und keineswegs für die schlanke Linie. Da wir diese Leckereien schon früher probiert haben, verzichteten wir diesmal aber auf den Kauf, zumal Silkes neue Pullis ja nicht zu eng werden sollen.